Ich habe immer noch das Bild vor Augen.
Da lag er, seelenruhig, aber dennoch angespannt. Er runzelte die Stirn und starrte mit geschlossenen Augen nach rechts oben. Sein graues Haar lag matt auf seiner geröteten Kopfhaut. Es war viel zu grau, zu grau! Es hätte nicht so grau sein dürfen. Er hatte schwarzes Haar, nicht graues! Meine Welt wurde hin und her gerissen.
„Ich liebe dich“, sagte ich leise und sanft. Er bewegte sich nicht, aber ich war mir sicher, dass er mich hören konnte. „Geht es dir gut?“, fragte ich.
Ich hoffte auf ein Nicken, auf einen zustimmenden Laut, auf irgendwas: Aber egal was, es kam nicht.
Ich sah mich zu meiner Freundin um, die mich bemitleidend ansah. Wusste sie, wie schmerzhaft das war? Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass sie es gewusst hat.
Ich ging zum Fenster und atmete die Luft, die durch den kleinen geöffneten Spalt drang. Es tat gut und für einen Moment vergaß ich meine Sorgen. Doch dann nahm mich meine Freundin in den Arm und erinnerte mich daran, warum ich hier war. Nein, sie hat nicht gewusst, wie schmerzhaft das war und immer noch ist. Sie würde niemals eine Ahnung haben.
„Es tut weh“, sagte ich. Aber sie verstand immer noch nicht. Stattdessen nickte sie nur. Vorstellen konnte sie es sich nicht. Vielleicht konnte sie es sogar, wollte es aber gar nicht. Manchmal mochte ich meine Freunde nicht. Freunde waren immer lästige Anhängsel für mich gewesen. Mittlerweile weiß ich sie zu schätzen, aber dieses unbeschreibliche Gefühl von Wut, weil sie mich nicht verstehen konnte, kommt trotzdem immer wieder in mir hoch.
Sie nahm mich fester in den Arm, doch ich schüttelte sie ab und stützte mich auf die Fensterbank. Draußen rauschte sanft der Wind. Die Sonne strahlte warm auf meine Hände. Sofort drehte ich mich um. Dann kamen mir die Tränen.
Auch auf ihn schien die Sonne, ganz warm und ruhig. Ich musste lächeln, während mir die Tränen die Wangen hinunter liefen. Wieso bemerkt man solche schönen Momente nicht, wenn alles noch in Ordnung ist?
Ich sehe wieder aus dem Fenster. Die Blüten auf dem Rasen, der weit unter mir lag, blühten in allen Farben und Formen. Der Tag hätte so schön werden können, aber das sollte er nicht werden. Manchmal wache ich nachts von diesem Gedanken auf. Jetzt, wo es schon so lange her ist. Trotzdem kommt es mir so vor, als würde ich es immer noch erleben.
„Hast du Angst?“, fragte meine Freundin plötzlich. Ich wollte nicht nicken, denn das wäre ein Zugeständnis gewesen, dass ich verlieren würde. Mein Blick wanderte zu ihm. Seine Position hatte sich nicht verändert. Ob er es mitbekam, während wir sprachen? Ich frage mich das auch heute immer noch. Mit feuchten Augen und wissend, dass ich log, schüttelte ich mit dem Kopf. Ich durfte keine Angst haben. Nicht in diesem Moment. Später vielleicht. Aber solange die Möglichkeit bestand, dass er mich hörte, auf keinen Fall.
„Ich habe keine Angst“, sagte ich und versuchte, so gefasst wie möglich auszusehen.
Ich sah den kleinen Fernseher an der Decke an. Damals hat er ganze Abende damit verbracht, seine Lieblingssendungen zu schauen. Wir haben das nie gemocht, weil er dann nicht ansprechbar gewesen ist. Aber an diesem Tag wünschte ich mir nichts mehr als ihn lachend vor einem Bildschirm zu sehen. Zu sehen, dass es ihm gut geht. Dass alles normal ist.
In den Augen meiner Freundin stand etwas, was mich traurig machte. Du lügst, sagten sie. Natürlich hast du Angst. Ich senkte den Kopf und fraß den Schmerz in mich hinein, der sich als Kloß in meinem Hals ausbreitete. Dann sah ich sie wütend an.
„Du bist schuld!“, schrie ich. „Wetten, du hast irgendeinen Pakt mit dem Teufel geschlossen?! Du… du Satansbraten!“ Ich wollte es nie zu ihr sagen, aber es war befreiend, die Wut herauszulassen. Ein Ventil für das zu haben, was man Schmerz, Verzweiflung und Angst nannte.
Sie sah mich erschrocken an. Dann kniff sie den Mund zusammen und sagte enttäuscht: „Ich wollte dir nur helfen.“ Die Art, wie sie das sagte, war schrecklich. Als hätte sie tausend Speere in der Hand gehabt und hätte mich mit jedem einzeln durchbohrt. Es tat zu sehr weh und die Erinnerung daran ist immer noch schmerzerfüllend.
Dann hörte ich die Tür knallen. Meine Freundin war aus dem Zimmer gerannt und hatte mich tatsächlich allein gelassen.
Ich hatte es nicht anders verdient. Ich hatte sie verletzt, wo sie doch nur helfen wollte! Was war überhaupt mit mir los? So unkontrollierte Wutausbrüche hatte ich davor nie gehabt. Jetzt habe ich sie nur noch ab und zu, wenn ich mich daran erinnere, wie alles zu Ende ging.
Ich ging langsam auf ihn zu und nahm seine Hand in die Hände.
„Ich habe dich immer geliebt“, flüsterte ich. Eine Träne fiel auf seine Hand und ich fühlte mich sofort schuldig. „Tut mir leid!“, sagte ich schnell. „I- ich habe eben etwas getrunken und jetzt ist etwas auf deine Hand getropft! So ein… Versehen…“ Ich wusste, wenn er etwas mitbekam, wäre ihm sofort klar, dass es meine Tränen waren, die ihn streiften.
„Meinst du, es wird schön für dich?“, fragte ich langsam und zögerlich, weil ich damit zugab, dass es verloren war. Warum machte mir der Gedanke immer weniger aus? Ich frage mich manchmal, ob ich mich daran gewöhnt habe oder mir die Gewohnheit aufgezwängt wurde.
„Bestimmt wird es schön für dich“, antwortete ich auf meine Frage. „Ich meine: Das alles wäre doch sinnlos, wenn nicht, oder?“ Ich schloss die Augen und atmete dreimal tief ein und aus. Dann wagte ich es, ihn wieder anzuschauen. Es versetzte mir den altbekannten Stich. Meine Träne floss diesmal auf die Decke, die über ihm lag. Was ist seine Lieblingsfarbe gewesen? Ich weiß es immer noch nicht. Aber mit Sicherheit war es nicht dieses sterile Weiß gewesen, das dort überall war.
„Ich liebe dich“, sagte ich wieder. „Ich liebe dich.“ Ich weiß nicht, wie oft ich es gesagt habe, aber so oft, dass ich immer noch der Überzeugung bin, dass dies an diesem Tag mein Lieblingssatz war.
„Wie geht es dir?“, fragte ich. „Das ist schön“, sagte ich. „Bald wird es dir noch besser gehen, das verspreche ich dir!“ Meine Worte waren ohne jeglichen Sinn, aber mit ihrer Verwendung kam eine innere Ruhe über mich, die unvergleichlich war. Wieso habe ich das davor nie gemacht? Warum habe ich nicht mit ihm geredet, als noch alles normal war?
Plötzlich hörte ich es. Es kam nicht langsam und schleichend, sondern schlagartig und bestimmt.
„Ich habe Angst“, sagte Papa. „Mein Bubbel.“ Ich küsste ihn unter Tränen auf die Stirn und sah das letzte Mal in seine dunkelbraunen Teddyaugen. Mama hatte sie immer Knopfaugen genannt. Ich hatte genau dieselben, aber es war nicht dasselbe, sie an mir zu sehen. Sie an Papa zu sehen, war viel schöner. Dieser Moment schien mir ewig zu sein. Und doch ist er viel zu kurz gewesen.
„Ich vermisse dich“, flüsterte ich. Es war mir egal, dass er mich weinen sah. Jetzt war das okay. Er weinte auch. Zusammen weinen war viel schöner als einsam in mir verschlossen.
Papas Augen verrieten mir seine Antwort: Ich dich auch, Schätzchen., aber er konnte nicht mehr sprechen. Seine Augen schlossen sich.
„Papa!“, rief ich. „Mach die Augen auf! Bitte! Bitte, Papa, lass mich deine wunderschönen Augen sehen!“ Aber er gehorchte nicht. Stattdessen umklammerte er meine Hand. Ich hatte ganz vergessen, ihn zu fragen, ob er etwas mitbekommen hatte! Ganz bestimmt. Oder? War er erst eben aufgewacht? Wieso war er überhaupt aufgewacht? War dies das letzte Mal? Es tat verdammt weh, an all das zu denken.
„Bubbel will, dass du mit ihr sprichst!“, weinte ich nun und wischte ihm das Salzwasser von den Wangen. „Bitte, Papa! Mini-Paipi!“ Für einen kurzen Moment dachte ich, dass er lächelte, aber dann verflog es wieder so schnell, wie es gekommen war.
„Papa!“, rief ich. Schrie ich? Ich wusste es nicht. Wahrscheinlich tat ich es, der Überzeugung bin ich zumindest heute. Hatte ich ihn damit verletzt? Er wollte nicht gehen, aber er musste es.
Seine Zeit war gekommen, er sollte sterben.
„Was tust du mir an, Gott?! Was denkst du dir dabei, mir meinen Papa wegzunehmen!!“ Ich bekam einen Heulkrampf. Auf einmal umarmte mich jemand von hinten.
„Es tut mir Leid“, sagte meine Freundin. Sie hatte es zuerst gesehen. Der Druck der Hände meines Vaters hatte nachgelassen. Für einen Moment schwindelte es mir. Das konnte nicht wahr sein. Ich kann immer noch nicht richtig daran glauben, aber wenigstens habe ich heute die Gewissheit.
Papa war tot. Gott hatte mir tatsächlich meinen Vater genommen. Ich warf mich in den Arm meiner Freundin und begann zu weinen. Diesmal waren es nicht ein oder zwei verkniffene Tränen, sondern ein ganzer Fluss, der unkontrollierbar war. Während ich weinte, schwirrten mir die Gedanken durch den Kopf.
Und plötzlich hatte ich das Gefühl, eine Hand auf meinem Rücken zu spüren; warm, sanft und beruhigend.
„Ich liebe dich, Papa“, sagte ich und brach auf den Knien zusammen.